Die "Verwissenschaftlichung des Sozialen" und das Betriebswissenschaftliche
Institut
Im August 1919 regten lebensreformerische
Kreise die Einrichtung eines betriebswissenschaftlichen Instituts an. Eine Art
Beratungszentrum für die neuen Methoden des scientific management sollte
entstehen. Zehn Jahre später wurde das Projekt realisiert, freilich ohne die
sozialrevolutionäre Perspektive der Initianten.
Geplant war
1919 die Ausbildung betrieblicher Sozialtechnokraten, die dem Klassenkampf
seine Schärfe nehmen sollten (Schulratsprotokolle, SR2:1919, Sitzung vom
18.10.1919, Trakt. 101). Diese "Verwissenschaftlichung des Sozialen" (Raphael
1996) forderte den Schulrat, der die ETH auf
keinen Fall als Professionalisierungsagentur des entstehenden Sozialstaates verstand, recht eigentlich heraus.
1922 stellte man sich gegen die Gemeinnützige Gesellschaft, die mehr
Lehraufträge im Bereich Fürsorge und Wohlfahrtspflege wünschte
(Schulratsprotokolle, SR2:1922, Sitzung vom 25.11.1922, Trakt. 130). 1925 wurde
auf ein Gesuch von Professor Willy von Gonzenbach nicht eingetreten, der sein
bakteriologisch-hygienisches Institut im Hinblick auf die Ausbildung von
Gewerbeinspektoren ausbauen wollte (Schulratsprotokolle, SR2:1925, Sitzung vom
28.11.1925, Trakt. 140). 1930 lehnte es der Schulrat ab, gemäss dem Wunsch der
Vereinigung Schweizer Angestelltenverbände eine Professur für Sozialpolitik zu
schaffen (Schulratsprotokolle, SR2:1930, Trakt.
64), und als 1931 der Gewerkschaftsbund eine Professur für Arbeitsphysiologie
forderte, um den "Gefahren des Raubbaus an der menschlichen Arbeitskraft" mit "objektiven" Mitteln entgegenzutreten, verwies man auf die psychotechnischen
Lehrveranstaltungen des Privatdozenten Alfred Carrard (Schulratsprotokolle,
SR2:1931, Sitzung vom 20.2.1931, S. 33).
Bewegungsstudie im Labor des BWI in den 1940er Jahren. Die Versuchsperson ist mit Glühlampen versehen, mit denen bei langer Belichtungszeit ihre Bewegungen sichtbar werden.
Die Zurückhaltung
gegenüber den neuen Humanwissenschaften erklärt sich aus der Angst des
Schulrates, in politisch umstrittenen Fragen für die falsche Seite Partei zu
ergreifen. Handlungsbedarf bestand gleichwohl. Immerhin wurde
zu jener Zeit beispielsweise am Massachusetts Institute of Technology die Sloan
School of Management gegründet. Gemeinsam mit dem Volkswirtschaftsprofessor
Eugen Böhler und dem Privatdozenten für Betriebswissenschaft Alfred Walther
veranstaltete Schulratspräsident Arthur Rohn 1928 einen einwöchigen "wirtschaftlichen Fortbildungskurs für Ingenieure und Betriebsbeamte". Die gut
besuchte Veranstaltung verbesserte die Beziehungen der ETH zu den Spitzen der Industrie
und der Banken deutlich. So hielt etwa Hans Sulzer von der Gebrüder Sulzer AG
in Winterthur fest, nun habe er endlich jenen "intimen Kontakt" zur ETH
gefunden, den er für sein Unternehmen "für so wichtig und notwendig" halte
(Jaun 1986, S. 113).
Unmittelbare
Folge der Veranstaltung war die Gründung einer Trägergesellschaft für den
Aufbau eines betriebswissenschaftlichen Instituts. Mehrere Wirtschaftsunternehmen
stellten Jahresbeiträge von 44'000 Franken für den Betrieb der Institution in
Aussicht, die ETH steuerte weitere 28'000 Franken jährlich bei, und von der "Eidgenössischen Stiftung zur Förderung schweizerischer Volkswirtschaft durch
wissenschaftliche Forschung" sollten noch einmal jährlich 10'000 Franken
fliessen. Freudig verkündete Rohn in der Schulratssitzung vom 7. November 1929, "die Lebensfähigkeit" des Instituts sei gewährleistet (Schulratsprotokolle, SR2:1929, Trakt. 78).
Als dessen Aufgaben umriss er erstens den Aufbau einer Fachbibliothek, zweitens
die Organisation eines Erfahrungsaustausches in Rationalisierungsfragen
zwischen Industrievertretern, drittens die betriebswissenschaftliche Forschung "im Interesse der Schweizer Wirtschaft" und viertens die Veranstaltung von
Weiterbildungskursen sowie die Herausgabe von Publikationen
(Schulratsprotokolle, SR2:1929, Sitzung vom 5./6.07.1929, Trakt. 48).
Damit war
der Eingabe von 1919 von der Sache her Genüge getan. Obwohl mit dem späteren
Bundesrat Max Weber ein Gewerkschaftsvertreter im Beirat des
Betriebswissenschaftlichen Institutes BWI sass, war dessen Konstruktion deutlich
auf die Interessen der Unternehmer ausgerichtet. Rohn und Böhler argumentierten
gegenüber dem Bundesrat, diese Wirtschaftsnähe sei absolut notwendig. Sie
warnten nachdrücklich davor, über die Beratung der Unternehmen in
Rationalisierungsfragen sozialpolitische Interventionen zu wagen. Vielmehr
seien "befriedigende Erfolge nur zu erwarten, wenn das Forschungsinstitut in
dauerndem und engstem Kontakt mit der Praxis steht." Ausserdem könne "eine
derartige Institution nur bestehen, wenn sich der Staat in keiner Weise
materiell in ihre Tätigkeit einmischt und auf jede Form der Bevormundung
verzichtet." (Jaun 1986, S. 114)
Die
angestrebte Industrienähe ergab sich freilich weniger leicht, als erwartet.
Ursprünglich war geplant, dass die Industrie Forschungsgegenstände aus den
Bereichen Betriebsorganisation, Rechnungswesen, Baubetrieb, Fabrikbetrieb,
Werkstatttechnik und Herstellungsverfahren, Psychotechnik und Arbeitshygiene
sowie dem Normenwesen an das Institut herantragen würde. Aber im ersten
Betriebsjahr wurde nur ein einziger Forschungsauftrag erteilt. Die Unternehmer waren
mit der einsetzenden Weltwirtschaftskrise vollauf beschäftigt, und das Institut
krankte an Organisationsproblemen. Alfred Walther, dem die Leitung der
wissenschaftlichen Abteilung anvertraut worden war, zerstritt sich mit
Institutsleiter Böhler und nahm den Hut. Ein neuer Kandidat wurde gesucht, dem man
zugleich eine Professur in Betriebswissenschaften anzuvertrauen gedachte. Die
Wahl fiel auf René de Vallière, der die Strickereimaschinenfirma Dubied &
Cie. A. G., in Neuchâtel leitete (Schulratsprotokolle, SR2:1931, Sitzung vom
8.5.1931, S. 50). Doch der Ingenieurunternehmer aus der Praxis tat sich
anfänglich schwer. Zwar baute er mit einigem Erfolg die Institutszeitschrift "Industrielle Organisation" auf. Aber der angestrebte Erfahrungsaustausch
zwischen Unternehmern fand kaum statt.
Die aus den
USA übernommene Idee wollte nicht recht funktionieren, weil die Mehrheit der
Schweizer Unternehmer das Wissen, das in ihren Betrieben steckte, nicht für
generalisierbar hielten. Die Ausbildung zum "Betriebsführer", d. h. zum
Manager, konnte man sich in der Schweiz nur in engem Kontakt mit einem
konkreten Unternehmen – und dessen Geheimnissen – vorstellen. Diese Überzeugung
machte sich auch Arthur Rohn zu eigen, als die Schaffung eines
Ausbildungsganges in Betriebswissenschaften Thema wurde. Es könne nicht darum
gehen, hielt er 1930 fest, "halbe Ingenieure und halbe Volkswirtschaftler"
auszubilden, sondern es müssten "ganze" Ingenieure mit Zusatzausbildung sein. (Schulratsprotokolle,
SR2:1930, Sitzung vom 33.2.1930, Trakt 33). Bei einer grundsätzlichen Studienplanrevision
der Maschinenbauabteilung erhielten die Studierenden 1933 neu die Möglichkeit, sich
in frei wählbare Fächer zu vertiefen, unter anderem auch in Betriebswissenschaften. "Damit", so Rohn, "würde auch dem von den Industriellen unseres Landes
vorgebrachten Wunsch entsprochen, wonach die Betriebsingenieure grundsätzlich
eine von den Maschinen- bzw. Elektroingenieuren nicht verschieden Ausbildung
geniessen sollten." (Schulratsprotokolle, SR2:1933, Sitzung vom 23.09.1933, S. 170)
Der
äusserst enge Bezug der Betriebswissenschaften in Forschung und Lehre zur
Schweizer Maschinenindustrie etablierte sich in der Folge weiter. Die ETH
sah darin eine Möglichkeit, sich in dem Bereich spezifische Kompetenzen zu
erarbeiten, ohne zum sozialreformerischen Potenzial Stellung nehmen zu müssen,
das in der Anwendung wissenschaftlicher Prinzipien auf die Organisation
gesellschaftlicher Verhältnisse liegt. Der Preis für diese Ausrichtung war der Verzicht auf eine eigene "Business-School", wie sie noch 1941 diskutiert wurde,
und wie sie an amerikanischen technischen Hochschulen mit grossem Erfolg
entstanden. Dieses Ausbildungsfeld war damit frei für die Handelshochschulen,
insbesondere für jene in St. Gallen, die ihre Chance zu nutzen wusste.
Daniel
Speich