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Der Zürcher Maschinenbau-Professor Aurel Stodola bemühte sich im Ersten Weltkrieg um eine Verbesserung der "bisweilen üblichen, reichlich plumpen Prothesen". Dieses medizintechnische Engagement wollte der dezidierte Pazifist als "Rache am Krieg" verstanden wissen.
1959, anlässlich einer Gedenkfeier zum 100. Geburtstag des 1942 verstorbenen ETH-Professors Aurel Stodola, erinnerte sich sein ehemaliger Assistent und spätere Nachfolger Gustav Eichelberg an dessen "helfendes Eingreifen in die geschöpflichen Not" des Ersten Weltkriegs:
"Es war im Frühjahr 1915, als Stodola mich - mein Assistenzjahr war bereits zur Hälfte im Grenzdienst vergangen - aus dem Turmzimmer im alten Maschinenlaboratorium in sein Bureau kommen liess, in den übergrossen, feierlich dunklen Raum, wie Fausts Studierstube 'bis ans hohe Gewölb hinauf mit angeraucht Papier umsteckt'. Hier hatte ich für einige Zeit an einer mechanischen Hand zu zeichnen und mit Stodola die Handgriffe des täglichen Bedarfs in Haus und Beruf durchzusprechen; wobei auch in der Anatomieabteilung der Universität der verfügbare Hub der für die Betätigung der Finger zu verwendenden Armsehne aus gemessen wurde. 'Das wäre meine Rache am Krieg' äusserte sich Stodola einmal."
Der Erste Weltkrieg führte nicht nur das Destruktionspotenzial eines industrialisierten Krieges mit entsetzlicher Deutlichkeit vor Augen. Im Zusammenhang mit der Kriegsbegeisterung, welche die kriegführenden Nationen zumindest in den ersten Monaten beflügelte, wurde auch die paradoxe Rede vom "humanen Krieg" laut: Der "modernen Waffentechnik" stünde eine ebenso "vorbildliche Medizintechnik" zur Seite, behaupteten nicht wenige der Kriegsbefürworter. "Die Kleinkalibergeschosse verursachen so 'anständige' Wunden, dass die Mehrzahl der nicht sofort Getöteten wieder geheilt werden kann", propagierte etwa das deutsche Wochenmagazin "Die Umschau" im Oktober 1914. Den Lesern wurde versichert, dass die moderne Kriegstechnik - vom "humanen", weil kleinkalibrigen Mehrladegewehr bis hin zum "bloss strategisch einsetzbaren Trommelfeuer" - von einer bestens ausgerüsteten Militärmedizin assistiert werde. "Das ist der beste Beweis dafür, dass das so seltsam erscheinende Wort vom humanen Krieg Berechtigung hat, weil unsere Zeit die Wunden, die sie geschlagen, auch zu heilen weiss" (Die Umschau (18) 1914, 810).
Unter "Modernität der Medizin" waren am Anfang des 20. Jahrhunderts auch die Fortschritte in der Orthopädie gemeint. Im Bemühen, die Heerscharen von Kriegsverletzten in den Arbeitsprozess oder gar in den Militärdienst zu reintegrieren, hatte die medizinische "Kriegsbeschädigten-Fürsorge" künstliche Arm- und Handaufsätze entwickelt: So genannte "Arbeitsklauen", hergestellt aus Leichtholz oder Aluminium, sollten "dem Unglücklichen seine Lage erleichtern, ihn als Ernährer seiner Familie erhalten und seinem Berufe wieder zuführen" (Illustrirte Zeitung, 24.12.1914). Innovationspotenzial in der damaligen Prothetik beanspruchten die Kunstglieder des deutschen Arztes Ferdinand Sauerbruch: Der damals an der Zürcher Universitätsklinik tätige Chirurgie-Professor, nach Kriegsausbruch zum Oberstabsarzt der deutschen Truppen berufen, bemühte sich, den lebenden Körper für künstliche Handmodelle zu mobilisieren und die vorherrschende "primitive" Orthopädie-Technik zu dynamisieren.
In seinen Memoiren, 1951 unter dem Titel "Das war mein Leben" erschienen, schildert der Wegbereiter einer modernen Prothetik eine folgenreiche Begegnung mit ETH-Professor Aurel Stodola. Sauerbruch, 1915 für kurze Zeit nach Zürich zurückgekehrt, wurde vom Maschinenbau-Ingenieur nach seinem "Erlebnissen im Feldzuge" befragt. Während Sauerbruch zunächst ein zeitkonformes Lob der "Erneuerungskraft" des Krieges anstimmte, äusserte sich Stodola als "überzeugter Pazifist":
"Er hasste ihn (den Krieg), er war überzeugter Pazifist. Zuletzt zog er die Rolle des Arztes im Kriege in den Kreis seiner Betrachtungen. (...) Er antwortete mir auf meine Fragen, dass es dann eben die Aufgabe der Ärzte sei, künstliche Glieder zu konstruieren. Er könne sich als Techniker und was die technische Seite des Problems beträfe, durchaus vorstellen, dass das möglich wäre. Jedoch müsse der Arzt die Muskeln des verletzten Gliedes als Kraftquelle für eine 'willkürlich bewegliche Hand' wieder nutzbar machen, dann könne man eine wesentliche Verbesserung der bisher üblichen, reichlich plumpen Prothesen erzielen."
Die "willkürlich beweglichen" Kunsthände, die Stodola daraufhin für Sauerbruch entwarf, verfolgten das Ziel, unversehrte Muskelstränge als "Kraftquellen" einzusetzen. "Um diese Kraftquelle nutzbar zu machen, ist nun ein chirurgischer Eingriff erforderlich, durch den die Muskelenden (Sehnen) mit Haut umgeben zu einer frei vorstehenden Schleife oder einer sonstigen für mechanischen Kraftangriff geeigneten Endigung geformt und zum Verheilen gebracht wird", beschreibt Stodola die chirurgisch bereit zu stellenden "Kraftangriffspunkte" für seine mechanisch arbeitenden Handprothesen. Mittels Federn und flaschenzugartigen Antrieben sollten die von Willensimpulsen ausgelösten Muskeltraktionen in einfache Schliess- und Greifbewegungen der Kunstglieder übersetzt werden (Stodola 1915). Deutlich manifestiert sich in Stodolas Kunsthand die Vision des "Human Motor", einer wissenschaftlichen Leitmetapher der Industrialisierung, nach welcher der menschliche Körper nach denselben Produktivitätskritieren zu modellieren sei wie eine industrielle Maschine.
Sauerbruch schreibt in seiner Biografie, er und sein Team hätten zwischen 1915 und 1916 verschiedene Hände für Amputierte geschaffen, zunächst eine von Professor Stodola angefertige "Breitgreifhand", die sich "nach erfolgtem Befehl aus dem Assoziationszentrum" öffnete und schloss. "Diese Stodolasche Hand diente vor allem dem Werktag des amputierten Arbeiters. Wir machten aber auch eine 'Sonntagshand', 'Greifhand' oder 'Feinhand'" (Sauerbruch 1951, 250).
Als dezidierter Vertreter eines humanistischen Bildungsideals – auch seine 1931 publizierte "Weltanschauung vom Standpunkte des Ingenieurs" zeugt von dieser Gesinnung - wollte Stodola mit einer technisch gesteigerten Rehabilitationstechnik die Grausamkeit des Krieges kompensieren. Allerdings beschränkte sich sein Engagement auf die anfängliche Entwicklung von Prototypen, nachher zog sich der Maschinenbauprofessor aus dem Prothesen-Geschäft zurück. Bereits am 29. November 1916 schrieb er dem Springer Verlag, er verzichte er auf jegliches, im Zusammenhang mit seinen orthopädischen Entwicklungen anstehendes Renommee: "Nach den enormen Opfern, die der Krieg fordert, kann ich nämlich die Berechtigung eines Patentschutzes auf dem genannten Gebiete nicht mehr anerkennen, und ich habe demgemäss meine damals eingereichten Patentanmeldungen sämtlich zurückgezogen." Auch an der 1918 geschaffenen "Deutschen Gesellschaft für Ersatzglieder nach Professor Sauerbruch", welche Herstellung und Vertrieb "aller beweglichen künstlichen Gliedmassen für Amputierte, in erster Line nach dem chirurgischen Verfahren von Professor Sauerbruch" zum Zweck hatte und zu deren Gründungsmitgliedern beispielsweise die BBC Mannheim gehörte, war Stodola nicht beteiligt.
Monika Burri
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