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ETHistory 1855-2005 | Besichtigungen | Orte | Wissenschaftliche Konferenz |

Die wissenschaftliche Konferenz

Konferenzen sind ein traditioneller Ort wissenschaftlicher Kommunikation. Mathematiker "aller Länder" trafen sich 1897 zum ersten Mal in Zürich.

Der erste internationale Mathematiker-Kongress fand 1897 am Polytechnikum statt. Die Konferenzsprachen waren deutsch und französisch. Damals ging es um persönlichen Austausch sowohl auf professioneller Ebene wie auch im geselligen Rahmen. Man präsentierte und bestätigte einander ein bestimmtes Bild des Mathematikers und Gelehrten. Die Mathematiker arbeiteten im Namen der Allgemeingültigkeit wissenschaftlichen Wissens an der internationalen Vereinheitlichung ihrer Terminologie und strichen zugleich die nationalen Forschungsbeiträge heraus. In der Gründungsgeschichte dieses Forums finden sich mithin die typischen Strukturmerkmale wissenschaftlicher Konferenzen wieder.

Die Festkarte zum Internationalen Mathematiker-Kongress betont nationale Bezüge. Zu sehen sind die schweizerischen Mathematiker Daniel, Jakob und Johann Bernoulli (oben), Leonhard Euler (links), Jakob Steiner und das Polytechnikum.
Die Festkarte zum Internationalen Mathematiker-Kongress betont nationale Bezüge. Zu sehen sind die schweizerischen Mathematiker Daniel, Jakob und Johann Bernoulli (oben), Leonhard Euler (links), Jakob Steiner und das Polytechnikum.
Unter der Federführung des ETH-Mathematikers Carl Friedrich Geiser machten sich die Zürcher Kollegen daran, den Plan eines internationalen Mathematikerkongresses zu verwirklichen. Die geografische Lage Zürichs "im Kreuzungspunkte der grossen Linien von Paris nach Wien und von Berlin nach Rom" schien sich für ein erstes Treffen anzubieten. Das international besetzte Organisationskomitee verschickte ein halbes Jahr später Einladungen an 2000 Mathematiker in Europa und den USA. 242 Mathematiker aus 16 Ländern, darunter 38 Mathematikerinnen, sassen schliesslich in der Aula, als Geiser in der Eröffnungsrede die Gründe und Ziele der neuen Einrichtung noch einmal ausführlich erläuterte. Wie viele seiner Nachredner begriff Geiser die Konferenztage als "Festtage", er nahm die Tagung also nicht zuletzt als Gesellschaftsereignis von eigenem Erinnerungswert wahr.


"Wir legten die Festtage in eine Zeit, in welcher die Schweiz ohnehin ein Hauptsammelplatz derjenigen ist, welche Ruhe und Erholung nach gethaner, Mut und Kraft zu neuer Arbeit suchen. So wird auch für Sie die Gelegenheit verlockend sein, nach den Anstrengungen gemeinschaftlicher Arbeit noch einige Tage oder Wochen in der belebenden Nähe unserer stürzenden Bäche und rauschenden Tannen, im stillen Anblicke unserer blauen Seen und grünen Alpen oder mitten unter den wilden Felsen und kalten Gletschern unserer Hochgebirgswelt zu verweilen."

(Rudio 1898, 24)

Die vorgetragene Überlegung der Organisatoren zum Veranstaltungsdatum wirft ein Schlaglicht auf das Selbstbild der versammelten Wissenschaftler. Das Ferienland Schweiz belohnte die angereisten Konferenzteilnehmer mit der Möglichkeit touristischer Ausflüge. Ihre selbstverständliche Berufung auf die akademische Forschungsfreiheit brachte es mit sich, dass Arbeitszeit und Freizeit nur schwer voneinander zu trennen waren. Arbeits- und Lebensform konvergierten: Die Mathematiker verfolgten selbst gesteckte Ziele, deren Erreichung auch ein Ziel persönlicher Entwicklung war. Dabei schmälerte sich das Arbeitspensum angesichts neuer Forschungsergebnisse und einem sich stets verändernden Spektrum ungelöster Probleme nie. Vor diesem Hintergrund lag es nahe, Freizeit und Arbeit bzw. Genuss und Disziplin nicht als Gegensatzpaare anzusehen, sondern sich z. B. kleine Auszeiten an fremden Dienstorten zu nehmen und sie als Erholung und alternatives Bildungsangebot zu betrachten.

Die Mathematik galt im besonderen Mass als 'einsame' Tätigkeit, ein Topos, der auch in Zürich bemüht wurde. Einen Mathematikerkongress zu organisieren, musste als unkalkulierbares Wagnis erscheinen, es handele sich um "eine Art von Sprung ins Dunkle", so Rudio 1898. Und der Tübinger Professor Alexander von Brill hatte im Vorfeld geargwöhnt, ob es überhaupt möglich sei, "die schwerflüssige Masse einsiedlerischer Mathematiker zur Teilnahme an einem erstmaligen internationalen Kongress zu bewegen" (Rudio 1898, 58).

Wenn es so vieler Anreize bedurfte und solche Hürden zu nehmen waren, um Mathematiker miteinander ins Gespräch zu bringen: Warum überhaupt einen internationalen Kongress organisieren? Die verdichtete Kommunikation auf Konferenzen befeuere das individuelle Denken und steigere die Wahrscheinlichkeit gemeinsamer Lösungen, so die Veranstalter in ihrem Reglementsentwurf für den Kongress. Bei einem umfassendem Programm und der repräsentativen Auswahl der Redner werde zugleich der gegenwärtige Stand einzelner Wissensgebiete ermittelt (Rudio 1897, 33). Mit der beschlossenen regelmässigen Ausrichtung eines internationalen Mathematikerkongresses vertrat die Gründungsversammlung sogar den Anspruch, die Mathematik insgesamt zu überblicken und zu organisieren. Am Ende der Zürcher Konferenz war die Einsicht in die Notwendigkeit der Koordination grösser denn je. Der deutsche Mathematiker Felix Klein zeigte sich überwältigt von "der Mannigfaltigkeit mathematischer Auffassungen und Interessen, die eine Bezugnahme von Mathematiker zu Mathematiker ausserordentlich erschwert. Die Verschiedenheit der Sprache tritt fast zurück hinter der Verschiedenheit der mathematischen Denkweise" (Klein 1898, 300).

Im Laufe der Konferenz war vor allem eine fortlaufende, dauernd aktualisierte internationale Bibliografie angemahnt worden, nicht zuletzt, um, noch einmal in den Worten Kleins, "die Geltung unserer Wissenschaft nach aussen hin zu sichern". Voraussetzung dafür war eine anerkannte Klassifikation der mathematischen Subdisziplinen. "Eine solche allgemein und von allen Fachgenossen adoptierte Klassifikation besitzen wir auf mathematischem Gebiete leider noch nicht", hatte der ETH-Professor Ferdinand Rudio schon bei der Kongresseröffnung konstatiert. "Wohl haben wir eine Reihe von Klassifikationen, die alle in ihrer Art Vortreffliches leisten. Ich erinnere an die Klassifikation des Pariser bibliographischen Kongresses, der 1889 unter dem Vorsitze des Herrn Poincaré ... tagte, ich erinnere an die Klassifikation des von Herrn Lampe herausgegebenen Jahrbuchs über die Fortschritte der Mathematik, an diejenige des universell angelegten Dewey’schen Dezimalsystems und so manche andere" (Rudio 1898, 35–36). Eine ganze Sektion widmete sich im Anschluss dem Thema und bereitete eine Resolution für die zweite Hauptversammlung der Tagung vor, nach der bis zur nächsten Konferenz 1900 in Paris – auf diese Daten hatte man sich schon geeinigt – eine Expertise über die Klassifikationsfragen und Kooperationsmöglichkeiten mit bereits begonnenen bibliografischen Projekten in Auftrag gegeben werden sollte.

Die angestrebte Standardisierung der Terminologie arbeitete dem Ideal zu, nach dem wissenschaftliche Erkenntnis universell gültig ist. Das Streben nach Objektivität wurde als Handlungsmaxime oft beschworen. Mit dem Engagement für die Disziplin erwerbe man sich jenseits politischer Zugehörigkeiten ein "geistiges Bürgerrecht in einem Reiche von unendlicher Ausdehnung: Es ist das Reich der Wissenschaft" (Rudio 1898, 28). Auf nationale Helden bei der Fachgeschichtsschreibung musste trotz der identitätsstiftenden Idee der Gelehrtenrepublik nicht verzichtet werden: Im Zuge des Beschlusses, den mathematischen Kanon zu stabilisieren und Klassikerausgaben zu erstellen, wurde von Schweizer Seite der Plan vorgetragen, die Werke Leonhard Eulers zu edieren. Auch die Festkarte des Kongresses illustrierte den schweizerischen Beitrag zur internationalen Mathematik.

Andrea Westermann

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