Leopold Ruzicka und das Verhältnis von Wissenschaft und Wirtschaft in der Chemie
1939 erhielt der
ETH-Professor Leopold Ruzicka den Nobelpreis für Chemie. Geehrt wurde damit
ein Grenzgänger, der sich virtuos zwischen reiner Grundlagenforschung und
industrieller Produkteentwicklung zu bewegen verstand.
"Es war für mich eine angenehme Überraschung,
als ich hörte, dass Ihre Exzellenz im Auftrage der hohen schwedischen Regierung
nach Zürich kommen werden zur persönlichen Überreichung dieser schönen Medaille
und des so bedeutungsvollen Dokuments." Mit diesen Worten richtete sich Leopold
Ruzicka am 16 Januar 1940 an den schwedischen Botschafter, der ihm die
Goldmedaille und das Nobel-Diplom der Königlichen Akademie der Wissenschaften
übergab. Wegen des deutschen Überfalles auf Polen hatte die Ehrung nicht im
üblichen Rahmen stattfinden können. Stattdessen lud Schulratspräsident Arthur
Rohn die Festversammlung ins Restaurant Huguenin an der Zürcher Bahnhofstrasse 39
zum Mittagessen ein. (Oberkofler 2001, 129.)
Vorlesung Leopold Ruzickas in organischer Chemie
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An der kleinen Feier im Januar 1940 blickte Leopold Ruzicka auf die Leistungen des Dynamit-Erfinders Alfred Nobel zurück und führte aus, er erkenne in dieser Figur, die zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Philanthropie gestanden habe, sich selbst als den "jungen Chemiebeflissenen vor über 30 Jahren, dessen Weg von Kroatien schliesslich in die Schweiz führte, wo er ohne sein Geburtsland zu vergessen, eine ihm liebgewordenen neue Heimat fand." (Ruzickas Banquet-Speech, in: Oberkofler 2001, 218.)
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Ruzicka, dessen Name tschechischen Ursprungs ist, war als Halbwaise in den slawonischen Städtchen Vukovar und Osijek aufgewachsen und hatte zwischen 1906 und 1910 an der TH Karlsruhe studiert. Danach kam er mit seinem Lehrer Hermann Staudinger an die ETH Zürich und erwarb 1917 das Schweizer Bürgerrecht. Die schwedische Presse kürte ihn 1939 gleichwohl zum jugoslawischen Nobelpreisträger, was die Schweizer Botschaft in Stockholm höchst irritiert monierte.
Nicht nur der Ort der Preisverleihung und die
Nationalität des Preisträgers, auch der Anlass der Ehrung war zunächst
unklar gewesen. Im November 1939 hatte sich Ruzicka persönlich in Stockholm
erkundigt, für welche Leistung er den Preis erhalten sollte. Denn in der Zeitschrift "Nature"
war am 18. November 1939 auf Seite 858 zu lesen gewesen, der ETH-Chemiker
werde gemeinsam mit Adolf Butenandt für die in Göttingen und im Zürcher Labor unter scharfer Konkurrenz erfolgten Fortschritte bei der Strukturaufklärung
der Sexualhormone geehrt. Die Nachfrage erbrachte dann die Korrektur, dass nur
Butenandt für diese Arbeiten den Preis erhalte, während Ruzicka für seine
Forschungen über Terpene und Polymethylene geehrt werde. Beide
Forschungsgebiete Ruzickas, jenes der Hormone und jenes der Riechstoffe, boten
attraktive industrielle Verwertungsmöglichkeiten. Es überrascht daher nicht,
dass er in der Festrede 1940 fast im gleichen Atemzug den chemischen
Berufsverbänden für das geistige Umfeld und der chemischen Industrie für die
materielle Förderung dankte. Ein "Wort des Dankes gebührt den schweizerischen
Industrien, welche die Arbeiten unseres Laboratoriums in weitgehendem Masse
unterstützten, auch wenn es sich nicht um die rein technische Ausbeutung
wissenschaftlicher Ergebnisse handelte", führte er aus.
Wenn man Vladimir Prelog glauben will, der
Ruzicka auf der ETH-Professur für organische Chemie folgte, dann perfektionierte Leopold
Ruzicka die Synthese von wissenschaftlicher Forschung und industrieller
Verwertung, und zwar aus einer persönlichen
Notlage heraus. Denn Ruzickas Vorgesetzter, Hermann Staudinger, sei zwar ein inspirierender
Lehrer gewesen, aber auch ein schwieriger Chef, der alle Arbeiten am Institut
auf seine persönlichen Interessen habe ausrichten wollen. Als Ruzicka eigene
Forschungswege einzuschlagen begann, habe Staudinger ihm die Assistenz gestrichen
und seine Forschungsmöglichkeiten massiv eingeschränkt, berichtete Prelog 1980 in
der Ruzicka-Biografie für die britische Royal Society. Das Verhältnis der beiden sei stets zwiespältig geblieben. "The
outcome of his decision to become his own master was that he was forced to turn
to the chemical industry to find the financial wherewithal for his livelihood
and laboratory expenses. … Later this was to develop into a model for
interaction between the Swiss chemical industry and the academic chemical
community." (Prelog/Jeger 1980, 413.)
Ruzickas Interesse an Terpenen liess ihn
bereits 1917 mit der deutschen Duft- und Geschmacksstofffirma Haarman &
Reimer Kontakt aufnehmen. Doch seine Angebote blieben ebenso erfolglos wie bei der
Basler CIBA, mit der er 1918 verhandelte, und die Chemische Fabrik in Brugg
zeigte sich ebenfalls zurückhaltend. Erst 1921 schien es zu klappen. Ruzicka löste
alle seine bestehenden Geschäftsverbindungen auf und stellte sich ganz in den
Dienst der Genfer Firma M. Naef & Cie., der späteren Firmenich SA. "This association was to evolve into a highly propitious and
productive symbiosis", hielt Prelog in seinem Rückblick fest. Für den Genfer Zulieferer der
Parfümbranche entwickelte Ruzicka in den 1920er-Jahren eine industriell
verwertbare Analyse des Moschus-Duftes. Auch die Strukturaufklärung des
Duftstoffes der Zibet-Katze nahm er sich erfolgreich vor. 1923 schloss die
Firma mit Ruzicka einen 11-Jahres-Vertrag ab, der ihm die Anstellung von
Privatassistenten ermöglichte. Nun konnte er sich die Forschungsinfrastruktur aufbauen,
die ihm an der ETH trotz Titularprofessur vorenthalten blieb.
Die Mitarbeiter des organisch-chemischen Laboratoriums 1937. Links von Ruzicka sitzt Moses Wolf Goldberg, rechts von ihm Tadeus Reichstein
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1926 hätte er gerne die Nachfolge Staudingers
angetreten, aber man zog Richard Kuhn vor. Ruzicka nahm dann einen Ruf nach
Utrecht an, von wo er aber bereits 1928 als Nachfolger Kuhns an die ETH
zurückkehrte. Gezielt begann er nun, das organisch-chemische Laboratorium
auszubauen. Bereits 1940 beschäftigte er 50 Mitarbeiter und 1945 war das
Zürcher Labor zum weltweit grössten Institut seiner Art angewachsen. Die Mittel
für diese Expansion stammten nicht von der Schulleitung, sondern von der
Rockefeller-Stiftung und insbesondere von der CIBA, mit der Ruzicka 1935 einen lukrativen
Zusammenarbeitsvertrag abschloss. Mit Ausnahme der Riechstoffe erklärte er sich
bereit, alle seine Forschungsergebnisse der Basler Chemiefirma exklusiv zur
Verfügung zu stellen, wofür er neben gewissen jährlichen Zahlungen eine
Umsatzbeteiligung von 3–5% erhielt. 1939 brachte ihm allein das Homonpräparat Perandren
56'546 Franken und 30 Rappen ein (Oberkofler 2001, 106). Am
gewinnbringendsten erwies sich ein Verfahren, das den Abbau des billigen und in
grossen Mengen zugänglichen Cholesterins zu den männlichen Sexualhormonen
Androsteron und Testosteron ermöglichte. Während des Zweiten Weltkrieges
akkumulierten sich in den USA Patentlizenzeinkünfte von dreieinhalb Millionen
Franken. Mit
diesem Geld finanzierte der Chemieprofessor eine beachtliche Sammlung
niederländischer Kunst, die er 1948 dem Zürcher Kunsthaus schenkte.
Fast als Privatunternehmer betrieb Ruzicka in
den Räumen der ETH sein Laboratorium. Niemand störte sich an der engen
Verbindung wissenschaftlicher und industrieller Interessen und in der Tat schmälerte die Industrienähe der Forscher die akademische Qualität ihrer Arbeit nicht. Der Nobelpreis Ruzickas belegt dies ebenso wie die spätere Ehrung
seiner Mitarbeiter Vladimir Prelog und Tadeus Reichstein durch die Schwedische
Akademie. Problematisch an der Konstellation war aber die berufliche Position
der erfahrenen Assistenten. Insbesondere Moses Wolf Goldberg und Placidus Andreas
Plattner litten immer stärker an einer eigentlichen Statusinkonsistenz. Die beiden durch Drittmittel finanzierten wissenschaftlichen Mitarbeiter spielten, so
Ruzicka 1940, "sowohl ihrer Tätigkeit wie ihren Fähigkeiten nach, die Rolle
eines Laboratoriums-Vorstandes bzw. in der akademischen Hierarchie in
Wirklichkeit die Rolle eines ausserordentlichen Professors." (Ruzicka im Referat über das Habilitationsgesuch von M.W. Goldberg, 23.07.1940, in: Oberkofler 2001, 221f.)
Bereits Mitte der 1930er-Jahre war das Problem
bei Tadeus Reichstein aufgetreten, der nicht seiner inhaltlichen Kompetenz
entsprechend angestellt gewesen war. 1937 hatte sich Ruzicka erfolgreich für seine
Beförderung zum ausserordentlichen Professor stark gemacht. 1945 erhielt auch Plattner
einen Lehrstuhl, und weitere sollten hinzukommen. In den 1960er-Jahren umfasste
das organisch-chemische Labor der ETH dann sechs Professuren, welche die
Vorsteherschaft im Turnus übernahmen. Ruzicka selbst hatte sich schon seit den
späten 1940er-Jahren aus der aktiven Forschung zurückgezogen. Aber um den Ausbau der
Forschungsinfrastruktur bemühte er sich weiterhin. So entstand 1954 auf seine
Initiative ein Institut für Biochemie, das die Basler Chemie mit mehreren
Millionen Franken finanzierte.
Daniel Speich