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Berufliche Sicherheit oder Persönlichkeitsbildung? "Studienfreiheit" im 19. Jahrhundert

Mit dem Ruf nach Studienfreiheit, der erstmals im berühmten "Bolley-Krach" von 1864 laut wurde, lehnten sich Polytechniker gegen die strenge Disziplinierung durch Professoren und Direktor auf.

Die Polytechniker fühlten sich oft bevormundet. Sie standen unter der Aufsicht der Professoren und der Schulbehörde, der bis hin zum Schulverweis eine Reihe disziplinarischer Maßnahmen zur Verfügung standen. Anders als die meisten Universitätsstudenten waren die Polytechniker auf ein Lehrpensum mit Prüfungen am Ende eines jeden Studienjahrs verpflichtet. Ihr Studium war als "Ausbildung für Professionen" angelegt (Stichweh 1994, 357). Es bereitete die jungen Männer auf die Übernahme von Ingenieuraufgaben vor. Akademische Freiheit war dort zunächst nicht vorgesehen. Im deutschen Technikerstudium, das für die Schweiz Vorbildcharakter hatte, wurde sie statt dessen wie in der universitären Ausbildung von Ärzten oder Juristen gegen eine weitreichende institutionelle Zugehörigkeit eingetauscht. Der Verzicht brachte berufliche und soziale Sicherheit: Schon die Aufnahme des Studiums schloss im Prinzip die lebenslange Mitgliedschaft zur Ingenieurprofession mit ein. Da die Polytechnikumsdiplome bzw. ETH-Doktorate aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts einen weitgehend exklusiven, wenn auch nie staatlich abgesicherten Zugang zu bestimmten Arbeitsfeldern gewährleisteten, war nicht ausgemacht, ob sich die Unterwerfung unter die strenge Schuldisziplin für den einzelnen auch wirklich auszahlte. Von den frühen Studierendenjahrgängen am Polytechnikum wurde sie deswegen nicht widerspruchslos hingenommen.

Überwachen und Strafen: Das Hauptgebäude sichert lokale Kontrollfunktionen über die Studierenden. Aufnahme von 1930.
Überwachen und Strafen: Das Hauptgebäude sichert lokale Kontrollfunktionen über die Studierenden. Aufnahme von 1930.

1864 kam es zwischen den "Schülern" und der Schulleitung zu einer ersten grossen Auseinandersetzung. Sie drehte sich einmal um das Duell, das sich die Polytechniker von den Universitätsstudenten abgeschaut hatten und das für sie einen standesgemässen Ausdruck von Souveränität darstellte. Dieses Ritual, das nach Gesetzen ablief, die mit dem Reglement der Schule unvereinbar waren, verbot Direktor Pompejus Alexander Bolley schliesslich ausdrücklich. Ausserdem war das Polytechnikum gerade ins neue Sempergebäude eingezogen. Nun drohte den Studenten eine Überwachung, wie sie bisher in den über die Stadt verteilten provisorischen Unterrichtsräumen überhaupt nicht möglich gewesen war. Dass man in einem Neubau arbeite, werde demnächst keiner mehr erkennen, fasste der Schweizerische Schulrat die Lage in seinem "Bericht an das schweizerische Departement des Innern über die Vorfälle am Eidgenössischen Polytechnikum" mit Blick auf die Sudeleien zusammen: "In den Übungssälen und Laboratorien beginnt man wieder zu rauchen, und beide sind nicht selten in sorglosester, ja unloyaler Weise missbraucht und geschädigt." Direktor Bolley zeigte sich in einem Aushang am schwarzen Brett entschlossen, "wo der Täter bekannt würde" mit grösster Strenge einzuschreiten und ihn vollumfänglich zu Schadensersatz heranzuziehen. Aufgebrachte Polytechniker entfernten das Schreiben umgehend, woraufhin man dem Schriftstück Platz in einem formaleren, weil geschützteren Mitteilungsorgan, dem Glaskasten, schaffte. Anderntags fehlten sowohl Glas als auch Dokument. "Allgemeinere Symptome der Unzufriedenheit" wurden registriert. Es kam zu "kleinen Zusammenrottungen vor dem Schwarzen Brett" und die Studenten hielten Versammlungen ab, in denen das weitere Vorgehen besprochen wurde.

Diese Treffen wurden bald in die Unterrichtszeiten verlegt. Mit anderen Worten: Man streikte. Eine Abordnung der Studenten nahm Verhandlungen mit dem Direktor auf, man warf sich gegenseitig Falschaussagen und Formfehler vor. Der Protest gipfelte darin, dass beinahe die Hälfte der Studenten per Unterschriftenliste ankündigte, die Schule zu verlassen, falls Bolley sein Direktorenamt nicht aufgebe. Schon die Forderung allein überschritt jede Kompetenz der Studentenschaft, darin war sich die Schulleitung einig. Darüber hinaus war ein studentisches Vertretungsgremium, das für ein Kollektiv handelte, im schulinternen Organisationsalltag nicht vorgesehen. Der Austritt "jedes Einzelnen" bedürfe nach Artikel 56 des Reglements der Zustimmung der Eltern oder Vormünder. Ein gemeinsamer Austritt werde nicht anerkannt.
So reichten die 325 Studenten wohl einzeln ihre Exmatrikulation ein. Der Abschied, ein Auszug aus Zürich per Schiff nach Rapperswil, wurde aber kollektiv gefeiert und erinnert.

1877 stand die Studienfreiheit erneut zur Diskussion. Dieses Mal führte die Gesellschaft ehemaliger Polytechniker GEP, in der sich die im Berufsleben stehenden Absolventen und alten Herren organisierten, das Wort. Sie sah in einer wohldosierten Studienfreiheit mittlerweile ein notwendiges Distinktionselement gegenüber den nicht-akademischen Konkurrenten. Die GEP erinnerte in einer Petition an den Schweizerischen Bundesrat daran, dass das Polytechnikum "selbständige Männer" heranzubilden habe. Schon das erste Reglement hatte die Schüler zu umfassender Selbstbildung angehalten. Man hatte vor allem auf die Geistes- und Staatswissenschaften gesetzt, um aus den jungen Männern politisch fähige Bürger zu machen, mit einem "offenen Auge und einer bereitwilligen Hand zur Wahrnehmung und Förderung aller wahren, materiellen und ideellen Interessen der Gesellschaft." Die Studienfreiheit sah man als Voraussetzung dafür, in die gesellschaftspolitische Rolle hineinzuwachsen. Sie sollte vorerst auf die Freifächer beschränkt bleiben. Die Schüler seien keine Knaben mehr, sondern dürften gerade in den Freifächern "wohl einige Freiheit in der Bestimmung ihrer eigenen Thätigkeit genießen, wenn sie in ihren Berufsstudien den strengen Anordnungen der Schule folgen." Nach dieser Steilvorlage machte sich 1878 der "Verein der Polytechniker", die mittlerweile etabliertere Studentenvertretung, das Argument ebenfalls zu eigen, konnte es sich aber nicht verkneifen, das staatsmännische Reden etwas zu theatralisieren.

"Das Schweizerland ist frei. Die gute Mutter Helvetia sorgt gewissenhaft für alle möglichen Rechte und Rechtlein ihrer lieben Angehörigen. Nur die armen Polytechniker scheinen einer ganz besondern stiefmütterlichen Fürsorge zu bedürfen. Wäre sonst der unleidliche Studienzwang möglich, der jedes Selbstbestimmungsrecht des Studierenden im engern Kreise seine Faches vernichtet, jede frische Tatkraft lähmt, den Schwung des Geistes ertötet, den Armen, der diesem oder jenem Gebiete des Wissens nicht alle seine Kräfte opfern mag, mit Zitationen und Relegationsandrohungen fast zu Tode hetzt! Sind wir nicht die meisten stimmfähige Bürger, sind nicht viele schweizerische Soldaten, ja Offiziere unter uns?"

(Verband der Studierenden an der ETH Zürich 1913, 10)

Erst 1908, ein halbes Jahrhundert später, wurde die prinzipielle Studienfreiheit gewährt. In dieser Zeit strebte die Schulleitung danach, den akademischen Status des Polytechnikums auf Hochschulniveau zu heben. Es machte sich deswegen viel besser, Studenten statt Schüler zu beherbergen: Die angehenden Ingenieure konnten über Pensum und inhaltliche Zusammenstellung der Vorlesungen und Übungen nun selbst entscheiden.

So schwer es der Schulleitung gefallen war, sich dieses Zugeständnis abzuringen, es zeigte sich schnell, dass die Disziplinierungsstrategien damit erfolgreich modernisiert worden waren: Von da an unterwarfen sich die Studenten freiwillig den so genannten Normalstudienplänen, die nur noch als Vorschläge zur optimalen Studienorganisation gewertet wurden. Jede weitere Flexibilisierung der Normalstudienpläne ging mit grösserem Selbstmanagement seitens der Studierenden einher.

Andrea Westermann

   
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